Liebe und Erotik in der Werbung

Hier finden Sie den Artikel »Herz statt Hose« von Christiane Kolb mit den Links zu Werbespots

Herz statt Hose

Sex sells. Aber heute verspricht die Reklame immer öfter auch wahre Gefühle, Glück und Verbundenheit. Haben Liebe und innere Zufriedenheit die Erotik abgelöst? Ein Streifzug durch die Welt der Spots und Anzeigen auf der Suche nach dem Sinn.

Liebe. Verbundenheit. Und Lust. Es gibt einen Werbespot, der einfach alles hat: Wir landen mitten in der Bescherung. Weihnachten, überdehnt in Zeitlupe. Jeder hat für jeden das perfekte Geschenk, Mama, Papa, der gut 20-jährige Sohn, die erwachsene Tochter. Alles ist Liebe. Nur Opa sitzt abseits. Ja, es ist schwierig, für diese Generation noch etwas Überraschendes zu finden. Da steckt der Enkel dem Opa einen Umschlag zu. Der schaut hinein und leuchtet wie ein angeknipster Weihnachtsbaum. Zoom bei der Umarmung: Es ist ein Geschenkgutschein. Für Pornhub, die größte Porno-Website der Welt. https://www.youtube.com/watch?v=jb32Ego033o

Falls Sie das sehen möchten: Spots wie diese findet man auf Youtube im Internet. Und man kann nicht anders als lachen. Bis man denkt: War das wirklich das Klischee des einsamen alten Mannes, der sonst keine Freude hat? Eine Pornografie-Plattform wirbt mit Nächstenliebe statt nackter Erregung? Zugleich nimmt uns die Ironie die Segel aus dem Wind. Hat man kein Herz, spielt man den Moralapostel, wenn man dem alten Herrn keinen Spaß gönnt? So raffiniert wird heute inszeniert. Darum lohnt ein Streifzug durch die Werbung: Ist Liebe die neue Erotik? Und wenn ja, mit welchem Sinn? 

Betrachten wir die erste Grundlage, Körper und Kurven. Nackte Tatsachen ziehen schon immer alle Blicke auf sich – von prähistorischen Höhlenbildern bis zum Internet. »Ihr Anblick ist ein Schlüsselreiz«, sagt Tobias Holland, Creative Director der Werbeagentur Publicis Pixelpark und Dozent an der Miami Ad School in Hamburg. »Werber wissen: Tiere, Kinder und Sex wirken immer.« Tatsächlich leuchten beim Anblick der Geschlechtsmerkmale die Lampen des Belohnungssystems im Hirn auf. Doch Hingucken weckt nicht automatisch die Kauflust, erklärt der Werbeexperte: »Erotik wird heute viel subtiler genutzt. Es ist wie im Liebesleben: An den schnellen Sex erinnert man sich nicht lange. Nur echte Gefühle halten länger.« Damit auch das Gefühl in Wallung gerät, muss der lustvolle Eindruck im Einklang mit Markenwerten stehen. Das geschieht, wenn das Produkt selbst eine erotische Dimension hat oder mit Sex verwandte Werte wie Leidenschaft, Hingabe oder Genuss eine Rolle spielen. www.youtube.com/watch?v=erAM9y_rHvQ Einen erotischen Anklang haben etwa Waren aus der Wäsche- und Parfumabteilung, verwandte Eigenschaften Produkte, die uns irgendwie verführen wollen. Sie kennen sicher das Eis, »das Leidenschaft weckt«. Eis und Erregung? Tut sich was in der Hose? Nein, aber am Bauch. Denn nach dem Schlecken, orale Befriedigung, müssen wir angesichts einer horrenden Kalorienzahl zugeben, dass das Verlangen stärker war als jede Vernunft. www.youtube.com/watch?v=wiCvL3arnps

Die Werbung nutzt unsere niederen Instinkte, spielt auf der Klaviatur der menschlichen Gefühle. Immerhin geben sich die Spots heute fortschrittlich, so Holland: »Erotik muss für einen positiven Effekt feinfühliger und hochwertiger inszeniert sein als früher, Sexismus findet man seltener.« Marketing geht in die Hose, wenn man ohne Zusammenhang zwischen Produkt und Erotik wirbt: »Peinliche Anzeigen oder Spots leisten sich heute eher noch regionale Unternehmen«, so Holland. Bisher konnte man geschmacklose Fehltritte beim Deutschen Werberat melden, der jährlich Rügen dafür verteilt (Beispiele unter www.werberat.de). »Heute quittieren die sozialen Netzwerke sexistische Kampagnen sofort mit einem Shitstorm«, kommentiert Holland.

Was ist mit dem Vorwurf, dass vor allem Frauenkörper gezeigt, ge- und benutzt werden? Tja, darüber hinaus werden heute auch Männer auf ihre körperlichen Reize reduziert, oft bei Körperpflege und Klamotten. Am stärksten reagieren Frauen – mit ihnen nicht bewusster körperlicher Erregung – auf verführerische Bilder mit Paaren, fand Forscherin Meredith Chivers von der University of Toronto heraus. Ist das nun ausgleichende Gerechtigkeit? Vielleicht ein Seitenhieb auf die Emanzipation: Frauen zahlen im Schnitt 25 Prozent mehr für einen Duft der gleichen Marke wie Männer, stellte das Marketing-Magazin »Absatzwirtschaft« fest. Der Fachbegriff dafür lautet Gender-Pricing, Preisgestaltung je nach Geschlecht der Konsumenten – und das kommt als Gegenstück zur Einkommenslücke doppelt teuer.

Die Emanzipation ist angekommen. »Insgesamt spielen Authentizität, Storytelling und starke Weiblichkeit eine größere Rolle«, stellt Holland fest. Also wird Erotik verpackt in eine kleine Geschichte mit leichter Ironie und einer Frau, die sich nimmt, was sie will, wie Schauspielerin Keira Knightley im Spot für den Chanel-Duft »Coco Mademoiselle« aus dem Jahr 2011. www.youtube.com/watch?v=aRV-2_Un-kk Im Video des Sextoy-Shops Eis.de tanzen in niedlichem Fifties-Pastell gekleidete Damen zum Song »Es rappelt im Karton« und schwenken Präsentpakete, in denen offenbar summende Intimzonenschmeichler ins Haus kommen. Die Geräte sieht man nicht, soll aber merken: ein sauberer Spaß, auch ohne Mann. »Werbung scheint mir heute komplexer, mehr auf Lifestyles angelegt. Erotik spielt eine große Rolle, aber oft im ironischen Spiel mit Geschlechtsrollen und Klischees«, sagt Konrad Weller, Professor für Angewandte Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg.

Sie nimmt sogar Wertewandel in der Sexualität auf, wie ein Coca-Cola-Spot zeigt. Darin sieht man nicht ungern, wie ein hübscher Kerl mit Waschbrett in der Hitze des Sommers den Pool der kleinen Familienvilla pflegt. Lecker! Das beobachten auch der erwachsene Sohn und die Tochter aus ihren Zimmern, bis beide zeitgleich auf die Idee kommen, dem Objekt der Begierde ein Kaltgetränk anzureichen. Ein Wettlauf beginnt. Doch am Poolrand steht bereits die attraktive Frau Mama und zuckt mit den Schultern: Schade, Kinder, ich habe den Mann schon versorgt! Dabei schlägt der Spot zwei sexualemanzipatorische Fliegen mit einer Klappe. Erstens: Auch Mütter können begehren, trotz Kinder und fortgeschrittenen Alters. Zweitens: Homosexuelles Begehren ist akzeptiert. So ist das heute. Trotzdem sollte man bedenken: Die Werbetreibenden sind nicht automatisch eine Speerspitze im Kampf für neue Toleranz. Mindestens gleich stark dürfte der Wunsch sein, der eigenen Zielgruppe zu beweisen, wie modern Produkt und Image sind. www.youtube.com/watch?v=KVfaRdb8CiQ

Da war die Deutsche Bahn 2016 schon mutiger. Sie zeigt einen Fußballfan, der seinem Lieblingsstürmer mit dem ICE von Spiel zu Spiel nachreist. Zuletzt wird er am Bahnhof abgeholt, vom Torjäger. Überraschung, Küsschen, Händchenhalten – sie sind ein Paar. Schwul in der Ersten Liga, das große Tabu. Chapeau, der Film macht ernst.

Weniger Sex, mehr Liebe? Nun sind wir bei den Gefühlen angekommen. Holland sagt dazu: »Schnellen Sex gibt es im Internet im Überfluss, heutzutage wollen die Menschen berührende Geschichten, ungewöhnliche Bilder und besondere Ideen sehen.« Das zeigt etwa der berühmte Edeka-Weihnachtsspot, in dem der Opa zur eigenen Beerdigung einlädt, damit ihn die Familie am Heiligen Abend besucht. Resümee des Werbers: »Viele aktuelle Werbe-Viralhits stellen Liebe, meist im familiären Kontext, soziale Beziehungen und Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt.« www.youtube.com/watch?v=V6-0kYhqoRo Und hier eine ironische Aufnahme des Edeka-Spots in einem aktuellen Spot von Lidl: www.youtube.com/watch?v=ZmFLimeOsJM#action=share

Nun kann man sich Gedanken machen, warum das ausgerechnet heute so ist. Vielleicht, weil Werbung immer das verspricht, was uns fehlt. In den politisch und wirtschaftlich eher stabilen 90-er-Jahren kam die sexuelle Revolution und die Emanzipation der Frau in der Gesellschaft an. In den Köpfen wurde noch darum gerungen. »Nacktheit ist tatsächlich seltener«, bestätigt Sexualwissenschaftler Weller. »Die Bild-Zeitung ist ein guter Indikator: Es gibt keine Barbusigen mehr auf der Titelseite.« Heute sehnen wir uns nach einer heilen Welt. Denn die Globalisierung, der Anstieg der gefühlten Bedrohung, das Verschwinden des Individuums im Netz überfordern uns.

Auch wenn die Spots amüsant sind und Liebe verherrlichen: Tief im Herzen wissen wir, dass man 

Liebe zum und vom Nächsten nicht kaufen kann. Und auch die Freude an vielen Produkten ist längst getrübt: Wer hat das schöne Kleid unter welchen Bedingungen genäht? Wie viele überflüssige Kalorien und welche bedenklichen Zusatzstoffe hat der Genuss? Welche Abgaswerte hat der schicke Wagen wirklich? Uns ist klar: Wir müssen uns zwingen, in der gefühlsseligen Bilderflut einen kühlen Kopf zu bewahren. Denn Werbung ist nur ein Traum. Wahre Liebe und echte Gefühle sind nicht käuflich. Sie bleiben ein Geschenk.