1 Kilo Treue am Stück, bitte!
Wenn eine Tugend zur Ware wird, bekommt sie einen Preis, kann gekauft und verkauft werden. Aber hat sie dann auch noch den gleichen Wert? Oder war die Treue immer schon ein Handelsobjekt?
Autor: Axel Reimann
»Herzlich willkommen beim Service Center von [setze beliebigen U Unternehmensnamen]. Mein Name ist [setze beliebigen Vor- und Zunamen]. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte meinen [Strom-, Gas-, DSL-, Handy-, Versicherungs-, Dienstleistungs-, Liefer-] Vertrag bei Ihnen kündigen.«
»Das ist schade. Dann schauen wir uns das mal an. Nennen Sie mir bitte Ihre Kundennummer und Ihr Geburtsdatum.«
Da ist etwas in die Brüche gegangen. Und die Aussprache kommt wahrscheinlich zu spät. Der Ärger hat sich angestaut, aber nur auf einer Seite. Dabei: Sie waren doch so lange zusammen. Haben immer gehalten, was sie sich versprochen hatten – die eine Seite hat geliefert, die andere dafür bezahlt. Jahrelang, keiner hat sich beklagt. Aber dann waren da plötzlich die anderen, die besser behandelt wurden: die Neukunden. Sie bekamen mehr Aufmerksamkeit, auch Geschenke, wurden umschmeichelt. Und der treue Bestandskunde bekam Wind davon …
»Ich verstehe einfach nicht, dass ich für die gleiche [für weniger] Leistung [setze beliebigen Betrag] Euro mehr bezahlen soll, als in Ihrer Werbung steht.«
»Das kann ich nachvollziehen/Das verstehe ich/Da scheint etwas schiefgelaufen zu sein … einen Moment … ich schau mir das mal genau an … Okay, wir können in Ihrem Fall in den Tarif [setze beliebigen Fantasienamen] wechseln, wenn Sie Ihren Vertrag verlängern. Außerdem bekommen Sie bei Vertragsverlängerung [setze beliebiges Goodie].«
Vielleicht bleiben sie also doch zusammen – das Unternehmen und sein Bestandskunde. Vielleicht helfen ja Geschenke, die Beziehung wieder zu kitten, ein Preisnachlass zum Beispiel oder ein Weinpaket oder »attraktive Rabatte für Events von Kooperationspartnern«. Treue Bestandskunden will keiner verlieren. Unternehmen können die Treue ihrer Kunden auch weiter monetarisieren: Da wird zum Handyvertrag noch eine Extra-Datenoption angeboten oder dem Stromkunden noch eine Ladestation fürs Auto. Das Erste nennen die Marketingleute Up-Selling, das Zweite Cross-Selling. Treue hat jedenfalls einen großen Wert in der Marktwirtschaft, vor allem aber einen Preis und den kann man berechnen – und könnte ihn sich (als Kunde) auszahlen lassen. Wenn man wüsste, wie hoch er ist. In Kundengesprächen wird aber nie Klartext gesprochen – das würde sich dann nämlich so anhören:
»Sie wissen, dass mein Customer Lifetime Value für Sie viel höher ist als der eines Neukunden.«
»Das ist richtig. Aber Sie kennen den Wert Ihrer Treue nicht – wir schon!«
»Okay. Machen Sie ein Angebot. Sonst bin ich weg.«
Bestandskunden sind die Melkkühe der Unternehmen und ihre Treue wird abgeschöpft – bis die Gemolkenen es merken. Das ist nicht verwerflich, sondern liegt in der Logik anonymer Massenmärkte begründet, wo persönliche Beziehungen eigentlich keine Rolle spielen.
(Auch wenn unser individuelles Konsumverhalten dort immer besser vermessen und getrackt wird, ändert das nichts am unpersönlichen Charakter, sondern die Personalisierung liefert nur mehr Daten, um unserer Treue ein genaueres Preisschild aufzukleben.)
Mal schauen reicht nicht
Aber geht’s in der Wirtschaft wirklich um »Treue«? Oder ist das nur ein Kosten-Nutzen-Kalkül von Marktakteuren? Und, die viel unheimlichere Frage: Ist Treue in Wirklichkeit nie etwas anderes als der Versuch der Nutzenmaximierung durch Selbstbindung an eine Person, ein Kollektiv, eine Sache, eine Idee, einen Gott oder eben einen Stromversorger? Fakt ist jedenfalls: Die Entzauberung der Welt
– und damit verbunden die Neuinterpretation der Treue als Ware – führt zwingend zur Payback-Karte. Oder zu anderen Kundenbindungs- und Loyalitätsprogrammen. Irgendwie muss die Treue ja generiert, muss der Mehrwert verlässlicher Beziehungen ja transparent gemacht werden. Wenn sich jeder nur noch als Nutzenmaximierer versteht und immerzu die Verbindung neu bewertet und vergleicht, braucht es Anreize zum Festhalten.
Kompliziert wird es dann, wenn – wie inzwischen üblich – das nutzenorientierte Treueverständnis in immer mehr Lebensbereiche übertragen wird.
»Ich frage dich vor Gott und dieser Gemeinde: [Name], willst du [Name des Partners/der Partnerin], die/den Gott dir anvertraut, als deine Ehefrau/ deinen Ehemann lieben und ehren, haben und Freude und Leid mit ihr/ihm teilen und ihr/ihm die Treue halten, solange ihr lebt bis auf Weiteres, so antworte: Ja, mit Gottes Hilfe mal schauen.« »Ja, mal schauen.«
Selten gibt es gänzlich nutzenorientierte und realistisch klingende Treueversprechen im Leben. (Vor allem nicht in der Werbung.) Denn es taucht da ein Problem auf: Selbst wer theoretisch um die Bedingtheit der Treue weiß, mag sich in der Praxis nicht so gern auf ein »Mal schauen« einlassen oder sich gar auf eine »Mal schauen«-Treue verlassen. Der treue Freund, der treue Partner soll eben einer sein, der nicht mit dem Taschenrechner ausrechnet, wie hoch der persönliche Nutzen in der Beziehung gerade ist. Nein, er oder sie soll bitte schön schon ein bisschen mehr mitbringen, nennen wir es hilfsweise die »Tugend der Treue«.
Nutzenabwägung macht unattraktiv
Und selbst im Ökonomischen braucht es in Wirklichkeit mehr als individuelle Nutzenoptimierung, damit Arbeitsverhältnisse und Lieferantenbeziehungen funktionieren, Verträge und Vereinbarungen nicht unterlaufen werden und wir uns ganz generell im Geschäftsleben so verhalten, »wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern« (so die Formulierung im Bürgerlichen Gesetzbuch). In Abwandlung eines bekannten Diktums kann man auch sagen: Die freie Marktwirtschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Die Treue jedenfalls, auf der ein Preisschild klebt und die sich nur durch Nutzenabwägungen rechtfertigt, reicht allein nicht aus für nachhaltige Beziehungen. Manchmal scheint es noch die Treue zu brauchen, die eher ist wie der alte Handyvertrag: Man verlängert ihn immer wieder, obwohl man längst bessere Angebote gesehen hat.
Dieser Text ist aus dem Themenheft Anders Handeln “Treue”.