Wenn das Wegschauen aufhört
Allerheiligen ist eine zweischneidige Angelegenheit: ein Feiertag voller widersprüchlicher Gefühle, die zugleich bedrücken und beleben.
Autor: Tobias Haberl
Schon beim Aufwachen schien die Welt stillzustehen, eine sonderbare Traurigkeit lag in der Luft. Und wenn wir am Nachmittag am Grab meiner Großmutter standen, mein Vater im bodenlangen Mantel und ich fröstelnd im Nieselregen, dann wünschte ich mich innerlich weg, aber spürte zugleich, dass es wichtig war, genau jetzt hier zu stehen und daran erinnert zu werden, woher ich komme und wohin ich gehe, dass also auch mein Leben ein Geschenk auf Zeit ist.
Einerseits verlief der Tag in quälender Stille und Langsamkeit, das Internet war noch nicht erfunden, die Geschäfte waren geschlossen, nirgendwo lief Musik, andererseits traf ich jedes Jahr wieder meine Lieblingscousine, wenn sich nach dem Friedhofs-besuch die Familie im Haus meines Großvaters im Bayerischen Wald versammelte; es gab selbst gebackenen Käsekuchen und Tee aus frischer Minze und auf einmal fühlte sich alles gar nicht mehr so trostlos an.
»Ich konnte seine besondere Atmosphäre nicht deuten«
Einerseits wollte ich den Tag schnell hinter mich bringen, der Friedhof, die Gräber, die demonstrative Ernsthaftigkeit der Menschen drückten auf mein Gemüt, andererseits genoss ich seine süße Traurigkeit, dazu kam die heftige Ahnung, dass er mich auf schmerzhafte Erfahrungen vorbereitet, die in meinem Leben noch eine Rolle spielen würden, Erfahrungen, vor denen man nicht weglaufen kann, weil sie einen sowieso einholen.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich den Sinn von Allerheiligen verstanden habe. Früher ließ ich den Tag eher über mich ergehen; ich spürte seine besondere Atmosphäre, aber konnte sie nicht deuten, schon gar nicht gedachte ich irgendwelcher Heiligen. Heute gestalte ich ihn nicht nur bewusst, sondern freue mich auf ihn, empfinde ihn als kostbaren Gewinn und ärgere mich regelmäßig, wenn wieder mal ein gottloser Politiker einen Feier¬tag abschaffen möchte, um die lahmende Wirtschaft anzukurbeln.
Die kürzeste Definition von Religion ist Unterbrechung – so hat es der Theologe Johann Baptist Metz formuliert. Es ist das, was an Allerheiligen passiert: Man unterbricht den immer schneller werdenden Alltag und begibt sich in die Sphäre des Wahren und Ewigen, man könnte auch sagen: des ganz Anderen.
Genau wie Jesus vor 2000 Jahren
In München, wo ich lebe, ist es ein Tag ohne Termine und Videocalls, der endlose Strom aus Zalando-Paketen versiegt, To-do-Listen bleiben unangetastet. Stattdessen besucht man die Toten, um für sie zu beten, um sich Gedanken, Erinnerungen, Gefühlen auszusetzen, die man sonst gern verdrängt oder die in der Hektik des Lebens unter den Tisch fallen: Abschied, Ver¬lust, Tod. Es ist tatsächlich so, dass es diese Unterbrechung und Stille, ja sogar die stechende Schwermut braucht, um aus dem geschäftigen Tunnel auszubrechen, in dem wir uns die meiste Zeit befinden und in dem wir so taub dafür sind, wonach wir uns in der Tiefe unseres Herzens sehnen.
Genau wie Jesus sich vor 2000 Jahren ins Dunkel begeben hat, um auferstehen zu können, bietet Allerheiligen die Chance, ins Dunkel zu gehen, um das Leben in seiner ganzen Fülle zur Kenntnis zu nehmen, einschließlich des Todes und der Hoffnung auf Erlösung. Fällt das leicht? Natürlich nicht. Tut das weh? Selbstverständlich. Umso wichtiger ist es, sich diesen Gefühlen auszusetzen, weil man seinen Schmerz und seine Angst anerkennen muss, um Hoffnung verspüren zu können.
True-Crime-Serien und die Panik vorm Sterben
Vor gar nicht langer Zeit wurden verstorbene Menschen im Wohnzimmer aufgebahrt, die Enkelkinder spielten neben der toten Oma Verstecken. Trauerfeiern, Totenwachen, Sterbebildchen und Prozessionen gaben Halt und spendeten Trost. Seitdem religiöse Rituale schwinden, mangelt es uns an Formen der Trauer und des Abschieds. Der moderne Mensch schaut sich zwar jeden Abend verstümmelte Leichen in True-Crime-Serien an, gleichzeitig hat er panische Angst vor dem Sterben und empfindet den Tod als gewaltige Kränkung.
An Allerheiligen lässt sich erfahren, dass das Leben und der Tod zusammengehören, ebenso Trauer und Trost, Schmerz und Hoffnung. Dieser Feiertag lädt dazu ein, mit dem Wegschauen aufzuhören und dem Hinschauen anzufangen. Das klappt vielleicht nicht auf Anhieb, aber wer es immer wieder versucht, wird die Erfahrung machen, dass der Tod seinen Schrecken verliert, je selbstverständlicher man ihn in sein Denken und Fühlen hineinlässt.
Am liebsten im Nieselregen
Ich bin an Allerheiligen schon jahrelang an keinem Grab mehr gestanden. In München gibt es zwar jede Menge schöne Friedhöfe, aber auf keinem einzigen liegt jemand aus meiner Familie. Das heißt aber nicht, dass ich den ganzen Tag Netflix schaue oder im Café sitze. Nein, Allerheiligen verbringe ich, wenn möglich, allein. Nur so komme ich in die richtige Stimmung, die sich übrigens immer noch seltsam widersprüchlich anfühlt, wenn ich ehrlich bin, sind da ganz viele Stimmungen mit- und nebeneinander, nämlich Trauer und Schmerz, aber auch Demut und Dankbarkeit, Hoffnung.
An Allerheiligen spüre ich intensiver als sonst, was das eigentlich heißt und bedeutet: ein Mensch zu sein – und was für ein ge¬waltiges Geschenk so ein Leben ist. Oft mache ich einen langen Spaziergang, dann gehe ich über den alten Südfriedhof und schaue mir die Gräber an, am liebsten im Nieselregen, weil Sonnenschein an Allerheiligen, das passt irgendwie nicht, anschließend trinke ich eine Tasse Tee, das Handy bleibt aus, das Notebook zugeklappt, manchmal ist es still, manchmal laufen Bach-Kantaten, und am Abend, wenn die Dunkelheit übernimmt, zünde ich eine Kerze an und spreche ein Gebet und bin dankbar für alle Menschen, die ich lieben darf, die Lebenden und die Toten.